Waldbaden
Wenn der Alltagsstress zu groß wird, zieht es in der Freizeit intuitiv viele für einen Erholungsspaziergang in den Wald. Die Ruhe, der frische Duft der Kiefern, das beruhigende Plätschern eines Baches und das Rascheln der Waldestiere wirkt wohltuend auf Körper und Geist. Schon Kneipp hat Spaziergänge in der Natur und im Wald empfohlen – früher gab es in Wäldern auch hin und wieder einen Brunnen für die Zugtiere, wo man auch mal ein Armbad durchführen konnte.
„Ich kannte zwei Herren, die täglich in einem Wald spazierengingen und
dort die verschiedensten Übungen machten, um alle Körperteile zu stärken,
was auf ihre Gesundheit den wohltätigsten Einfluss hatte.“
Sebastian Kneipp
Ein Waldspaziergang ist mehr als eine kurze Auszeit. Die medizinische Wirkung wurde in Fernost seit den 1980er Jahren wissenschaftlich erforscht. In Japan nennt man den erholsamen Waldaufenthalt Shirin Yoku. Übersetzt bedeutet das Waldbaden. Der deutsche Begriff wirkt nur auf den ersten Blick irreführend. Waldbaden heißt nicht, durch Laub zu tauchen und im Moos seine Bahnen zu ziehen. Shirin Yoku meint den bewussten Aufenthalt im Wald, in dem die Sinne zur Erholung genutzt werden. Der Akasawa Natural Recreational Forest in Japan nahe der Stadt Agematsu gilt als die Wiege des Shinrin Yoku. Während es dort bedeutet, nur das zu essen und zu trinken, was man zwischen den Bäumen findet, meint das Waldbaden in Deutschland das Öffnen der Sinne und den achtsamen Aufenthalt in der Natur. Atmen – Relaxen – Wandern – Berühren – Zuhören. Mit diesen fünf Eckpfeilern findet der Organismus Heilung. Der Wald wird zum Erlebnisraum, zum natürlichen Therapiezimmer. Über den moosigen Boden federn die Schritte leichter als über den Asphalt der Großstadt. Man atmet die frische würzige Waldluft ein, nicht die Abgase der Autos. Die Ruhe der Bäume wirkt entspannend, Stress löst sich auf. Diese subjektive Empfindung der Erholung wird durch wissenschaftliche Erkenntnisse gestützt. Da japanische Forschungsergebnisse, die in den fernöstlichen Pinienwäldern durchgeführt wurden, nicht einfach auf den deutschen Eichenwald übertragen werden können, beschäftigen sich deutsche Wissenschaftler mit dem medizinischen Effekt der natürlichen Erholung. Neben evolutionsbiologischen Untersuchungen wurde wissenschaftlich nachgewiesen, dass die Duftstoffe des Waldes das menschliche Immunsystem stärken. Durch das Einatmen der Terpene, die Bäume und Pflanzen ausschütten, um untereinander zu kommunizieren und so beispielsweise vor drohenden Schädlingen zu warnen, steigt die Produktion weißer Blutkörperchen im Blut um etwa 40%. Die weißen Abwehrzellen, die man auch Killerzellen nennt, sind wichtig für die Abwehr von Viren und sogar Krebszellen. An deutschen Universitäten wurden zudem Studien durchgeführt, die belegen, dass Heilung in einer grünen, natürlichen Umgebung schneller verläuft als hinter grauen, kahlen Betonmauern. Patienten kommen zur Ruhe, schlafen besser und fühlen sich erholt. Nachweisbar sinkt der Cortisolspiegel im Körper, man ist weniger gestresst und gleichzeitig besser gelaunt. Während in Japan bereits Studien über den präventiven Effekt des Waldbadens vorliegen, fehlen entsprechende Studien in Deutschland, auch über die Langzeitwirkung der natürlichen Therapie. Um dieses Defizit zu beheben, begleiten Wissenschaftler in Norddeutschland die Ergebnisse im ersten europäischen Heilwald in Heringsdorf, in dem Asthma- und COPD-Patienten die erholsame Wirkung der Natur genießen. Um dem Organismus eine wohltuende Auszeit zu gönnen, braucht es nicht viel. Das Rauschen der Blätter, die Farben der Bäume, eine Pause auf einem knorrigen Baumstumpf, während die nackten Füße das Laub des Waldes berühren. Augen schließen und tief durchatmen. Gehen und laufen Sie täglich und – falls möglich – barfuß. Aber bitte keine Überforderung! Sie sollen sich wohl fühlen und es soll Spaß machen. Letztendlich ist sehr viel für die Gesundheit getan, wenn man es schafft, in der Woche drei- bis viermal ca. 5 km rasch zu gehen oder zu walken.